SEKTIONEN: Tensions & Spectāre
SEKTION: Tensions
Kuratiert von Hana Ostan-Ožbolt-Haas
Tensions, die kuratierte Sektion auf der Hauptbühne des Festspielhauses Bregenz, stellt (großformatige) skulpturale Arbeiten von sieben Künstlerinnen in den Mittelpunkt. Die Auswahl umfasst sowohl etablierte Positionen als auch – vor allem – aufstrebende Künstlerinnen, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren geboren wurden. Sie beschäftigen sich in ihrer künstlerischen Praxis hauptsächlich mit dem Medium der Skulptur oder verbinden diese in einer transdisziplinären Praxis mit anderen Medien. Mit einer Vielzahl von Materialien und Herangehensweisen reflektieren ihre Arbeiten die zeitgenössische Produktion materieller Kultur, untersuchen verkörperte kollektive Spannungen und navigieren ihre Existenz innerhalb komplexer, oft widersprüchlicher Beziehungen. Die teilnehmenden Künstlerinnen hinterfragen Machtstrukturen, die unsere Gegenwart prägen und die Vorstellungen einer möglichen Zukunft beeinflussen.
Im Jahr 2022 wurde der Begriff „Permakrisen“ vom Collins English Dictionary zum Wort des Jahres erklärt. Im Jahr 2025 – einem Jahr, das bereits erschreckend lang erscheint – kämpft die Welt weiterhin mit geopolitischer Instabilität, Umweltkatastrophen, dem Aufstieg faschistischer Regime und weit verbreiteter gesellschaftlicher Unsicherheit. Wir befinden uns in einem Zustand der „Polykrise“, der von anhaltenden Spannungen geprägt ist. Wie die Sprache, ist auch die Kunst ein Spiegelbild der Welt, ein Indikator für die Zeit. Wie manifestieren sich diese Spannungen – seien sie gesellschaftlicher oder persönlicher Natur – in den Werken der sieben ausgewählten Künstlerinnen? Wie materialisieren sie sich – insbesondere in skulpturalerForm – zwischen Verlust und Widerstand, während sie zugleich die Zerbrechlichkeit und Beständigkeit der Strukturen betonen, die uns miteinander verbinden?
Tensions präsentiert unter anderem Arbeiten von Künstlerinnen, die entweder aus der Region Zentral- und Osteuropa stammen oder enge Verbindungen dorthin haben. Geboren im Kosovo (Doruntina Kastrati), der Slowakei (Denisa Lehocká), der Tschechischen Republik (Eva Koťátková) und in Ungarn (Zsófia Keresztes), beziehungsweise in Deutschland als Kind albanischer Eltern (Anna Ehrenstein), kommen sie alle aus Ländern, die auf dem internationalen Kunstmarkt noch immer unterrepräsentiert sind. Zwei Künstlerinnen sind in Portugal (Andreia Santana) und in Taiwan (Chin Tsao) geboren und leben in Wien.
Zahlreiche neue Werke wurden eigens für STAGE produziert, neben Beiträgen zweier Künstlerinnen, deren Arbeiten mit ihren jüngsten Präsentationen bei der 60. Biennale im Venedig (2024) in Verbindung stehen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Kontext der zentralen Theater- und Konzertbühne, die Nutzung ihrer Infrastruktur und die Präsentation monumentaler skulpturaler Arbeiten schafft Tensions eine einzigartige Umgebung, die über das konventionelle Format einer Kunstmesse hinausgeht.
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Hana Ostan-Ožbolt-Haas, geboren in Slowenien, lebt als freie Kuratorin und Autorin in Wien. Von 2019 bis 2023 war sie Direktorin der ULAY Foundation. In den letzten Jahren kuratierte sie unter anderem Ausstellungen für das Stedelijk Museum (Amsterdam), das Curated by Festival (Wien), das HOW Art Museum (Shanghai) und den Salzburger Kunstverein (Salzburg). Als Autorin schreibt sie für Artforum, Frieze und ArtReview.
SEKTION: Spectāre
Kuratiert von Camille Regli
DER REGISSEUR
Im Theater sind es nicht die Figuren, die das Stück spielen. Im Theater sind es die Schauspielenden, die es aufführen. Die Figuren hingegen existieren nur im Manuskript (er zeigt auf den Souffleurkasten) – wenn es denn eines gibt!
DER VATER
Eben! Da es kein Manuskript gibt und da Sie die außergewöhnliche Gelegenheit haben, meine Damen und Herren, diese Figuren lebendig vor sich zu sehen...
DER REGISSEUR
Oh, beachtlich! Wollen Sie etwa sagen, dass Sie alles selbst machen würden? Das Stück spielen, sich unmittelbar an das Publikum wenden?
DER VATER
Ja, genau so, wie wir sind.
DER REGISSEUR
Nun, ich versichere Ihnen, das wäre ein recht merkwürdiges Schauspiel!
–– Auszug aus Sechs Personen suchen einen Autor
von Luigi Pirandello (1921)
In Luigi Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“ (1921) versuchen sechs archetypische Figuren, ihre eigene Geschichte auf die Bühne zu bringen, wodurch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Schauspiel und Identität verschwimmen. Das Ringen um die Definition ihrer Rolle im Stück wirft die Frage auf: Wer bestimmt, was real ist und was nur gespielt wird? Sind wir nicht alle bloß Teil eines absurden Theaterstücks?
Spectāre greift die inhärente Theatralität der Kulisse von STAGE Bregenz auf und enthüllt dabei die Mechanismen, welche Raum formen, aktivieren und inszenieren. In diesem durch lange Vorhänge und Theaterbeleuchtung strukturierten Raum fungiert Spectāre als mise-en-scène, die die Zuschauenden dazu einlädt, die Schwellen zu überschreiten, welche herkömmlicherweise Performance von Realität trennen. Der Begriff selbst – abgeleitet vom lateinischen spec- („beobachten“) – rückt den Akt des Betrachtens in den Vordergrund. Er fordert zu einem bewussten Umherschweifen durch den Raum auf und ruft das unterschwellige Gefühl hervor, inszeniert zu werden. Während die Codes und Ambivalenzen zwischen Black Box und White Cube hinterfragt werden, stellt diese Sektion eine Probe dar – mit der Erkenntnis, dass kein Raum jemals wirklich neutral ist.
Im sogenannten Seitenbühne-Bereich – einer weitläufigen offenen Fläche, die die Grenze zwischen Publikum und Performance aufhebt – stellt Spectāre unsere Rolle und Position als Zuschauende in Frage. Denn durch das Betreten der Bühne sind wir nicht nur vor den Arbeiten positioniert, sondern in ihnen. In seinem wegweisenden Essay „Theater der Unterdrückten“ (1974) führt der brasilianische Theaterregisseur Augusto Boal das Konzept des spect-actor (dt. „Zuschau-Spieler*in“) ein und lehnt damit die Idee des passiven Zuschauens ab. Stattdessen betont er, dass das Publikum die Fähigkeit besitzt, die sich vor ihm entfaltende Erzählung umzuändern und neu zu interpretieren.
Spectāre vereint eine Auswahl von Kunstschaffenden, die sich mit der Idee von Performativität auseinandersetzen – sei es durch Sprache, Sound, Film, Malerei, Skulptur, Requisiten oder Figuren. Dabei stellt Spectāre Fragen zu den performativen Dimensionen von Objekten, von Körpern und Raum und verwischt die Grenzen zwischen Betrachtenden und Betrachtetem. Darüber hinaus wird die Ordnung dieser Sektion vorübergehend gestört durch zeitbasierte Aktivierungen der Kunstschaffenden – zugunsten einer flüchtigen Erfahrung, die sich einer endgültigen Fixierung entzieht.
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Camille Regli ist eine unabhängige Kuratorin. Sie ist Mitbegründerin und Co-Direktorin der KRONE COURONNE, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst in Biel/Bienne, Schweiz, sowie Mitglied des kuratorischen Kollektivs Collectif Détente. Sie hat mit Institutionen wie Kunsthaus Biel/Centre d‘art Bienne, FMAC (Collection d’art contemporain Genève), Fondazione Sandretto Re Rebaudengo, dem Schweizer Pavillon der Biennale von Venedig und dem Centre d‘art contemporain Genève zusammengearbeitet.
Foto von Camille Regli (links) – Antoine Berchier // Foto von Hana Ostan-Ožbolt-Haas (rechts) – Credit Olivia Henningsson